Anerkennung von Bildungsleistungen in der Schweiz

Anerkennung Bildungsleistung

Der Arbeitsmarkt entwickelt sich aufgrund von globalen Veränderungen rasant. Der mächtigste Treiber ist gegenwärtig die digitale Transformation. Menschen stehen vor der ständigen Herausforderung, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln und sich diesem Wandel anzupassen. Täglich erweitern sie ihren Erfahrungsschatz mit neuen Kompetenzen, sei es durch informelles Lernen oder gezielte Weiterbildung. Verfahren zur  Anerkennung von Bildungsleistungen ermöglichen es, diese erworbenen Kenntnisse an formale Abschlüsse anzurechnen. Dadurch bieten Anerkennungsverfahren einen vielversprechenden Weg, um formale Bildungsabschlüsse zu erlangen.

Von Thomas Bolli und Lena Dändliker*

Seit 2014 unterstützt die Schweizer Bildungspolitik gezielt Verfahren zur Anerkennung von Bildungsleistungen. Um ein tieferes Verständnis für Anerkennungsverfahren zu gewinnen, hat die Professur für Bildungssysteme der ETH Zürich im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) das Potenzial und die Herausforderungen solcher Verfahren untersucht (Renold et al., 2023).

Eine Typologie zur Charakterisierung von Anerkennungsverfahren

Die Anerkennungsverfahren in Europa sind äusserst vielfältig. Um diese Verfahren besser zu verstehen, haben wir eine Typologie entwickelt, welche zwischen dem primären Ziel des Verfahrens und der primären Evaluationsmethode unterscheidet.

Beim primären Ziel von Verfahren unterscheiden wir, ob sie zu einer Zulassung, einer Dispensation oder einer Teil-/Vollzertifizierung führen. Ein Zulassungsverfahren ermöglicht den Zugang zu einer formalen Ausbildung, auch wenn die regulären Zulassungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Unter Dispensation verstehen wir Verfahren, bei denen bestimmte Unterrichts- oder Prüfungsteile einer Ausbildung erlassen werden. Teil-/Vollzertifizierungsverfahren zielen darauf ab, dass die Kandidierenden ein vollständiges Zertifikat oder zumindest ein Teilzertifikat erhalten – ohne die reguläre Ausbildung oder Teile davon zu durchlaufen.

Die primäre Evaluationsmethode beschreibt, wie die Kompetenzen der Kandidierenden überprüft werden. Wir unterscheiden zwischen zwei Methoden: Verfahren mit und ohne Examen. Bei examensbasierten Verfahren legen die Kandidierenden etwa einen schriftlichen Test ab oder demonstrieren ihre Fähigkeiten praktisch. Bei Methoden ohne Examen erfolgt die Evaluation beispielsweise über die Einreichung eines Portfolios, wobei Kandidierende die relevanten Kompetenzen in Dokumentationen oder Lebensläufen nachweisen.

Wenn wir das primäre Ziel mit der Evaluationsmethode kombinieren, ergeben sich sechs Typen von Anerkennungsverfahren, welche in Tabelle1 gezeigt werden. Ein examensbasiertes Teil-/Vollzertifizierungsverfahren könnte beispielsweise in Form eines schriftlichen Tests gestaltet sein, der direkt zu einem Zertifikat führt. Ein Beispiel eines Verfahrens zur Zulassung mit Gleichwertigkeitsprüfung ohne Examen ist, wenn Kandidierende ein Portfolio einreichen, das zur Zulassung einer formalen Ausbildung führt.

CES 4-24 DE

Welche Anerkennungsverfahren werden in der Berufsbildung der Schweiz angewandt?

Wir haben die in Tabelle 1 gezeigte Typologie auf die berufliche Grundbildung in der Schweiz angewandt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Dispensation von Unterrichts- oder Prüfungsteilen anhand von Gleichwertigkeitsprüfungen ohne Examen eine wichtige Rolle spielt (Renold et al., 2023). Unsere Literaturrecherche zur europäischen Situation zeigt, dass in Europa die examensbasierte Teil-/Vollzertifizierung am häufigsten ist. Das Ziel der Zulassung spielt in der beruflichen Grundbildung eine untergeordnete Rolle. Die Schweiz schneidet im internationalen Vergleich bei der Verbreitung von Anerkennungsverfahren in der beruflichen Grundbildung gut ab. Mit etwa 8 Prozent der jährlichen Berufsabschlüsse, die über Anerkennungsverfahren erzielt werden, liegt die Schweiz mit Deutschland, Österreich, Dänemark und Finnland an der europäischen Spitze (Renold et al., 2023).

Auch in der höheren Berufsbildung ist die Anerkennung von Bildungsleistungen wichtig. Für die Höheren Fachschulen spielt das Ziel des Zugangs eine bedeutende Rolle bei der Nutzung von Anerkennungsverfahren. Sogenannte «sur dossier»-Zulassungen sind ein Beispiel für die Anwendung solcher Verfahren. Dabei handelt es sich um Einzelfallbeurteilungen von Kandidierenden, die die regulären Zulassungsbedingungen nicht erfüllen. Neben der Zulassung kann auch das Ziel der Dispensation vorliegen, wenn bestimmte Ausbildungsteile an Höheren Fachschulen erlassen werden. Eine Untersuchung von Salzmann et al. (2022) zeigt, dass sowohl Anerkennungsverfahren mit dem Ziel der Zulassung als auch der Dispensation wichtig sind.

Zudem sind Anerkennungsverfahren bei Berufsprüfungen und Höheren Fachprüfungen wichtig, wobei die Lage anders aussieht. Diese Ausbildungen sind stark prüfungsorientiert. Teilnehmende können sich in Vorbereitungskursen auf die Prüfungen vorbereiten, was aber nicht in allen Fällen notwendig ist, um die Prüfung abzulegen. In letzterem Fall kann man darin eine examensbasierte Evaluation mit dem Ziel einer Teil-/Vollzertifizierung sehen, wobei das Anerkennungsverfahren fest in die Struktur der Ausbildung integriert ist. Teilweise ist es möglich, notwendige Module mit der Methode einer Gleichwertigkeitsprüfung ohne Examen anzuerkennen. Auch bei diesen Ausbildungen können «sur dossier»-Zulassungen erfolgen.

Zusammenfassung

Unsere Erkenntnisse zeigen deutlich, dass die Anerkennung von Bildungsleistungen nicht nur ein Mittel zur individuellen Weiterentwicklung ist, sondern in der Schweiz auch eine bedeutende Rolle bei der Bewältigung des Fachkräftemangels spielen kann. In einer Zeit des schnellen Wandels auf dem Arbeitsmarkt bietet die Anerkennung von Bildungsleistungen einen vielversprechenden Weg, um formale Abschlüsse zu erlangen.

Die wichtige Rolle von Anerkennungsverfahren in der höheren Berufsbildung unterstreicht deren Bedeutung im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Durch die Anerkennung von Bildungsleistungen wird ermöglicht, dass bereits erworbene Kompetenzen im formalen Bildungssystem anerkannt werden. Dies macht den Erwerb zusätzlicher Kompetenzen attraktiver und trägt dazu bei, dass die Kompetenzen der Schweizer Erwerbsbevölkerung mit den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt Schritt halten können.  h


*Professur für Bildungssysteme, ETH Zürich

Quellenverzeichnis
Renold U., Bolli T., Dändliker L. und Rageth L. (2023). Anerkennung von Bildungsleistungen: Analyse bestehender Verfahren im nationalen und internationalen Kontext. CES Studies, 40. https://doi.org/10.3929/ethz-b-000644876.

Salzmann P., Engelage S., Hämmerli C., Neumann J. und Baumeler C. (2022). Anrechnungspraxis von Bildungsleistungen an Höheren Fachschulen. Schlussbericht. Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB).